Der Gerichtshof. In der Mitte der Bühne steht auf einem Podest ein Fenster mit einer Fensterbank. Kain (K) „thront“ als Angeklagter mit angewinkelten, an den Körper gezogenen Beinen auf der Fensterbank. Durch das Fenster scheint grelles Sonnenlicht herein. Vor dem Podest sitzen auf Stühlen Abel (A) und Lucia (L) als Ankläger und Lilith als Sister Judge (SJ) mit dem Rücken zum Publikum. L trägt eine Schuluniform mit kurzem Röckchen. Im Halbkreis um den Gerichtshof stehen mannshohe Spiegel. Auf jedem Spiegel klebt das Konterfei von A oder L oder SJ.
Der Chor stellt während der Szene immer wieder die Spiegel um, mitunter auch – für kurze Augenblicke – vor den Gerichtshof.
Der Chor trägt Masken von prominenten Schauspielern, Künstlern oder Rockstars. Die Männer tragen Masken von Frauen, die Frauen welche von Männern. Über Lautsprecher werden ohne erkennbaren Zusammenhang Lacher wie bei Fernsehkomödien eingespielt.
K versucht während der Szene eine Gedichtsstrophe von Stefan George als Verteidigung zu rezitieren. Die anderen fallen ihm jedoch stets ins Wort. Sie wollen etwas „Authentisches“ hören. K hat aber in Anbetracht dessen, was da passiert u. was passiert ist, keine eigenen Worte, nur die Wucht eines Schweigens, das weiß, ich habe wenigstens etwas getan.
A, L u. SJ rühren sich nicht. K springt auf, rennt um den Gerichtshof, stellt sich vor verschiedene Spiegel oder baut sich vor Chormitgliedern auf u. rezitiert erst langsam u. dann immer hysterischer, mitunter abgehakt, gehetzt, stotternd, nach Luft ringend oder im kindlichen Eideidei-Ton den Vers:
Wer niemals am Bruder den Fleck für den Dolchstoß bemaß
Nach einer Weile beginnen A, L u. SJ die Köpfe zu schütteln. Dann intonieren sie ein rhythmisches „ts-ts-ts“
Der Chor:
Hinter Häusern, hinter Zelten und hinter unsichtbaren Wänden
vegetieren die Rosen u. brüllen die Affen
u. rührt der Alte seinen Zucker im Kaffee um.
Die Erinnerungen steigen die Thermometersäulen empor
u. das Vergessen wird aus den Pockenarben geschwitzt
u. flutet die Keller der Wadenkrämpfe. Die Nacht ist schlaflos geblieben
u. der Rausch erkannte die Wahrheit u. gab sie allen zum Geschenk.
Achtlos lief ein jeder dran vorbei, achtlos griff ein jeder hinein,
achtlos schlang ein jeder ein Stück in sich hinein,
achtlos verwandelte es sich in Schmerzen u. Einsamkeit,
achtlos gaben sie der Liebe das Gift. Die Liebe taumelte
im Stroboskopenlicht u. brach am Morgen zusammen,
dehydriert. In der Fata Morgana war die Weite der Wüste
verschwunden gewesen, hatte ein Quell des Glücks geleuchtet.
Aber hinter Häusern, hinter Zelten u. hinter unsichtbaren Wänden
vegetieren die Rosen u. brüllen die Affen
u. rührt der Alte seinen Zucker im Kaffee um.
A, hochschreckend u. nachäffend:
Rührt der Alte seine Zucker um.
Noch was.
Die salbadern wie unser Alter, der nichts unternahm,
der es hatte geschehen lassen.
Ich sage mich von ihm los.
Ich habe seine Rolle jetzt.
Schweigt still.
Der Chor lacht, aber fügt sich.
A:
Setz dich!
K:
... bemaß.
A:
Fresse.
Setz dich.
SJ:
Zeige, dass du erwachsen bist u. setz dich da hin.
L:
Wo bin ich nur reingeraten.
Chor:
In den Hütten, in den Höhlen ...
A:
Fresse.
Chor:
... in den Erdlöchern der Schuld u. der Nichtigkeit ...
A:
Haltet ihr jetzt euer dummes Maul,
antiquierte Schwachköpfe,
blödes Gesocks,
hirnamputierte Penner.
K umarmt demonstrativ jeden aus dem Chor. Jedem gibt er ein Wort mit:
Wer
niemals
am
Bruder
den
Fleck
für
den
Dolchstoss
bemass
L:
Wo bin ich hier nur reingeraten?
SJ:
Lass deine Freunde, deine Ausflüchte,
lass dein Getue,
zeige, wer du bist u. setze dich
uns gegenüber
u. schau uns in die Augen
in die Brunnen der Wahrheit
u. Gerechtigkeit
(nimmt ein Blatt hervor, um den weiteren Text abzulesen u. herunterzuleiern)
wir leben von den Brosamen der Buße
u. den Resten der Reue
wir verschrieben unser Leben dem Gesetz
u. unsere Kraft dem Wohltun der Aufrechten
u. ... den Rest kann ich nicht lesen
(schaut fragend zu A)
Willst du wirklich diesen Müll haben?
A:
Es sind tiefe Worte.
L gähnt demonstrativ
Der Chor echot:
Brosamen der Buße
Reste der Reue
K setzt sich wie zu Anfang auf die Fensterbank. Legt seinen Kopf auf seine Knie, die er mit seinen Armen umfängt, um sein Schweigen zu ertragen.
Stille.
A:
Warum geht es nicht weiter?
SJ:
Was hast du getan?
Komm, sag es mir.
A:
Er hat es getan.
Ich bin der Beweis.
L:
Du bist eine Null.
Ein Nichtsbringer.
Wie hatte ich dein Geschwafel über, dein:
In der Liebe vereint die Himmel besteigen
u. den Wahnsinn der Sekrete besiegen
u. wie war das noch:
du wollest einen Wahnsinn haben,
der dich würde etwas haben lassen,
das die auszeichne
dir ein Zeichen gebe
als was Besonderes
als Unberührbarer
aber am oberen Ende des
wie sagtest du
Algorithmus.
Verstehe das, wer will
Der Chor echot:
Rhythmus
Rhythmus
SJ:
Das ist nicht nett von dir,
er macht sich so viele Gedanken
u. du feilst an deinen Nägeln
u. bürstest dein Schamhaar schamlos weich
(SJ nimmt aus ihrer Tasche einen Vibrator u. hantiert verdruckst damit rum.
Da A irritiert schaut u. K sie angrinst, lässt sie das Ding wieder in ihrer Tasche verschwinden)
L:
Wie bitte.
Alles glatt wie ein Babyarsch.
Du hast ja Verklemmungen wie aus dem ersten Jahrtausend vor dem Urknall.
B-U-M-M
(lacht u. äfft das Vibratorspiel nach)
K:
Wer niemals am Bruder den Fleck ...
A hält sich die Ohren zu, steht auf, verdeckt sich notdürftig hinter einem Spiegel u. wichst vergeblich.
Der Chor echot:
Fleck
Fleck
L:
Notdürftiger Not ... äh, äh ... durftler,
mehr bringste nicht,
Hirnwichser.
Wo bin ich hier nur rein geraten.
K:
... für den Dolchstoß ermaß.
SJ:
Ich hätte das von dir nicht gedacht.
Du musst doch sehen.
Du musst doch wissen.
Du hättest doch ... äh ... sehen ... äh ... wissen ... äh ... sollen ... äh ... müssen ... äh ... können.
Der Chor echot:
äh
äh
L:
(Zeigt SJ eine Nase u. echot):
Bäh
Bäh
SJ:
Heee,
du Schlampe,
du stehst auf unserer Seite,
vergiss das nicht,
(steht auf, zückt den Vibrator)
ich stopf dir das in die Mundfotze
du
äh
Fotze
euch junge Dinger hab ich grad gern
für wen mache ich das denn alles
u. dann
u. dann
fickt ihr nur rum
u. ich
ich
ich
äh
(weint)
(wischt sich die Tränen ab)
Also
es wäre äußerst kommod, würdest du bitte helfen,
dieses wichtige Verfahren über die Bühne zu bringen.
Chor echot:
Bühne
Bühne
K hat sein Stichwort, steht auf, breitet die Arme wie ein Priester aus u. deklamiert:
Wie leicht sein Leben ...
A:
Fresse!
Fresse!
Chor echot:
Messe
Messe
K:
... u. wie dünn das Gedachte.
(setzt sich wieder wie vorher hin)
SJ:
Das ist jetzt aber wirklich nicht nett.
(Geht hinter die Spiegel u. haut den Chor leise, aber doch verstehbar, um neue Batterien für den Vibrator an. Der Chor hat keine)
Verdammte Scheiße.
Schieb ich mir das Ding eben so rein u. lass es drin
dann sitzt’s sich richterlicher
u. das
„schuld“
im richtigen Moment gesprochen wird superb.
Was die beiden können, kann ich schon lange,
schließlich war der Alte auch mein ...
Scheiß drauf
aber das Ding da ist aus seinem Holz geschnitzt.
(lacht, läuft gegen einen Spiegel)
hoppla
Chor echot:
oh
ah
L:
Wo bin ich hier nur reingeraten
(sie spreizt die Beine)
Kain
psst
heee
du
hallo
gsst
kuck mal
oh
oh
wirste rot
da glänzt noch die Lust deiner Zunge
los
komm
noch
ein
mal
SJ/A/K:
Fresse.
L:
Also man könnt meinen, ihr seid verwandt.
A/K:
Das ist meine ...
SJ:
Fresse
Das tut hier nichts zur Sache.
(zu sich)
u. der Alte ist, ganz wie im Kino, unser ...
(lacht)
Chor äfft das Lachen nach.
L:
Wo bin ich ...
A:
Das hatten wir jetzt ja schon.
Kommen wir doch endlich zur Strafe.
Die Schuld liegt ja auf der Hand.
Man könnte ihn ja ...
SJ:
Hatten wir nicht ausgemacht, dass das mein ...
K steht wieder auf, lässt die Hosen herunter u. breitet die Arme aus:
Dem der von des Schierlings ...
Chor echot:
dings
dings
…
bums
(lacht)
L:
Wo ...
Chor:
oh
oh
A:
Fresse.
Chor:
se
se
SJ, masturbierend:
o
a
i
u.
L steigt auf den Stuhl, zieht den Rock hoch u. zeigt K ihren Arsch:
Kommst du jetzt.
A fällt vor der auf dem Stuhl stehenden L auf die Knie:
Ich bete dich an.
L springt vom Stuhl, tritt nach A u. setzt sich enerviert hin.
A:
Das Universum ist die Liebe
u. die Sterne die Dornen ihres Weges
die Sonne das Ziel
wir schmelzen uns ein in die Wärme
der
äh
Lebensspendung
SJ (zu sich):
Schade, dass er ihn nicht ganz abschalten konnte,
das erträgt der dickste Elefant nicht.
Egal,
Hauptsache
ich darf die Richterin spielen.
(zum Publikum)
Ich bin Sister Judge.
Ich bin wer.
Ich.
A:
Ich
ich
ich
L:
Was?
Was?
Was?
Chor:
iii
aaa
K, lachend:
... betäubenden Körner nicht aß!
L:
Drogen?
Geil?
Wo?
Chor echot:
Ohio
Ohio
SJ:
Jetzt krieg ich das Scheißding nicht mehr raus.
A:
Man sollte ihn einfach für nicht existent erklären.
Er ist das X u. ich bin das U.
Er ist das Ei u. ich der Appel.
SJ:
Geh fort.
Des uis oi ondre G’schischd
Chor:
scht
scht
L:
Wo bin ich ...
Alle:
Psst.
Stille
nur der Vibrator fängt plötzlich an zu vibrieren.
SJ:
Die Energie kehrt zurück.
A:
Finden wir die Kraft.
L:
Du?
Chor echot:
uh
uh
K steht auf, dreht sich um u. lässt wieder die Hosen herab u. sagt, während L lacht, SJ „neinneinnein“ stöhnt u. A den Kopf entrüstet schüttelt, zehnmal ganz schnell hintereinander:
O wüsstet ihr wie ich euch alle ein wenig verachte!
SJ:
Ich glaub, das war’s.
Chor echot:
aas
aas
A:
Und das Urteil?
SJ:
Das wird er sein Leben lang empfangen.
A:
Hä?
L:
Ha!
Wusst ich’s doch.
Bist ne Niete.
Große Klappe, aber
nix verstehn
ich andres baustelle, wa?
Chor:
E-wa
E-wa
SJ:
Fresse.
K klettert von der Fensterbank, geht an L vorbei, die für ihn kurz den Rock hebt u. ihn dann auslacht. K ab.
SJ gibt A zehn Euro:
Nimm’s nicht so tragisch.
A:
Wie soll ich ...
L:
Ach, halt’s Maul
(tritt ihn vor sich her von der Bühne)
SJ:
Huch, wo sind sie alle?
Ich bin allein.
So allein.
(hat wieder den Vibrator in der Hand, riecht daran, wirft ihn, über die Spiegel):
Scheißding.
(Hört eine Scheibe zerbrechen)
Zong!
Chor echot:
Ping
...
Pong
Die Chormitglieder nehmen die Spiegel u. gehen von der Bühne.
Langsamer Einzug des Lichts, nur das Sonnenlicht aus dem Fenster bleibt grell.
L kommt kurz zurück:
Wo bin ich hier nur rein geraten?
L ab.
Licht aus.
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